HIFI-Vision 5/1990 p. 195-196

Achim Hebgen:
Der Mann im Mond



Einst lebte ein Wikinger in den Straßen von New York. Er nannte sich nach seinem Blindenhund, "der wie kein anderer den Mond anheulte" - Moondog. Tag für Tag stand er an seinem Stammplatz Ecke 54. Straße - Sixth Avenue, verkleidet als Wikinger: Helm mit Hörnern, langer, schlohweißer Bart, wallende Gewänder und in der Hand einen Speer. Zum Pulsschlag seiner Trommeln trug er eigene Gedichte vor, die er auch verkaufte, und lieferte sich schlagfertige Wortgefechte mit Passanten.
Bald war die skurrile Erscheinung in der ganzen Stadt so bekannt, daß das Hilton-Hotel in einer Anzeige in der New York Times als Adresse angab: "gegenüber von Moondog". Musiker, von Toscanini bis Benny Goodman, besuchten ihn oft an seiner Ecke, lauschten und plauderten mit ihm. Eine Platte mit Charlie Parker war geplant, kam aber wegen Parkers Tod nicht mehr zustande. Dann, eines Tages, verschwand Moondog spurlos - ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war.
1989, etwa zwanzig Jahre später, New York, Downtown, Tower Records. In der Jazzabteilung frage ich nach Platten von Moondog. Der junge Schwarze, deutlich unter 30 und ansonsten sehr fachkundig, hat noch nie von ihm gehört. Einige ältere Semester schalten sich ein: "Ach, der ist doch schon lange tot." "Nein", sage ich, "ich habe ja eben in seinem Hotel mit ihm gesprochen, und gestern abend hat er ein grandios gefeiertes Orchesterkonzert in der Brooklyn Academy Of Music gegeben." "Kann überhaupt nicht sein, das war höchstens jemand, der seinen Namen angenommen hat", wird mir mit Nachdruck versichert.
Es ist wahr. Der längst Totgeglaubte ist tatsächlich der "echte" Moondog. Unter den Musikern der aufbrechenden Rockära Ende der 60er Jahre war der blinde alte Mann eine überaus hochgeschätzte Kultfigur. Einige Bands wagten sich an seine Kompositionen, und sogar die energiegeladene Janis Joplin nahm ein Stück von Moondog in ihr Programm auf. Das Madrigal "All Is Loneliness" zählt mit Sicherheit zu den schönsten Songs ihrer Frühphase.
Im modernen Musikbusiness nimmt Moondog eine Sonderstellung ein, denn er ist jemand, der eine ganz eigene, unverkennbare Musiksprache gefunden hat. Die liegt irgendwo im weiten Bereich zwischen Broadway-Melodien, Jazz und klassischer Musik. Trotz ihrer strengen Form, die vom strikten Kontrapunkt bestimmt ist, wirkt sie improvisiert und fast leicht: unvergeßliche Melodien, getragen von einem rhythmischen Pulsschlag.
Louis Hardin, so heißt der faszinierende alte Herr mit bürgerlichem Namen, ist 74 Jahre alt und durch einen Unfall blind, seit er 16 ist. "Ich hätte nie Musik studieren können, wenn ich mein Sehvermögen behalten hätte. Das Studium war einfach zu teuer. Der gesamte musikalische Unterricht, den ich in der Blindenschule von Iowa erhielt, war kostenlos. Hätte ich sehen können, hätte mich das eine Menge Geld gekostet - genau das gleiche Studium. Meine Eltern hätten das nie bezahlen können", erinnert er sich.
"Mein Vater war eine Art Missionar und nahm mich schon als Kind mit in die Indianerreservate. Einer der Häuptlinge ließ mich einmal auf seinem Schoß sitzen, während er die große Kriegstrommel schlug. Meine Trommeln - das ist exakt indianische Tradition. Die 'Indian Beats', die ich in meinen Kompositionen benutze, sind wie der Herzschlag. Das ist der universale Rhythmus der Welt. Musik, die diesen Herzschlag in sich trägt, besitzt einen unmittelbaren Appeal, du erzeugst eine direkte Identität mit deinem Publikum."
Dieser Puls und die zyklischen Wiederholungen durch die kontrapunktischen Überlagerungen erzeugen eine gewisse Ähnlichkeit zur Minimal-Music.
"Du kennst doch sicher Philip Glass. Weißt Du, was er sagt? Er nennt mich 'The Leader of the Pack', den Anführer der Bande, und er sagte mir, ich sei es gewesen, der ihn, Terry Riley und Steve Reich beeinflußt hat - ich war ihre Inspiration. Da ich aber nicht so bekannt bin wie er, mag man denken, Moondog imitiert Philip Glass. Es ist genau andersrum."
Doch versteht sich Moondog keineswegs als Minimalist im Sinne der anderen drei. Die Wiederholungen bei den Minimalisten, die sind sehr eng, manchmal nur zwei oder drei Noten und immer und immer wieder, wie eine Platte, die hängen bleibt: das ist der Die-Platte-hat-einen-Knacks-Sound.
Obwohl er mit Philip Glass befreundet ist und auch längere Zeit bei ihm wohnte, hält er nicht mit kritischen Anmerkungen zu ihm und anderen Komponisten hinterm Berg: 'Philip Glass' Musik wäre wahrscheinlich viel besser, wenn er die Gesetze des Kontrapunkts befolgen würde. Ich habe das Gefühl, sie werden einfach ignoriert. Er schreibt eine Menge Melodien, die er übereinanderlegt, aber nach den Gesetzen des Kontrapunktes passen sie nicht zusammen. Ich bin der strengste Kontrapunktiker in der Geschichte der Musik. Ich kenne keinen Komponisten, der nicht irgendwann die Gesetze des Kontrapunkts verletzt hat: Haydn, Mozart, Beethoven, selbst Bach.
Moondog gilt seit den 50er Jahren als lebende Legende, und er kennt zahllose Musiker, die ihn verehren - doch fand sich bis heute kein großer Musikverlag, der seine Kompositionen unter Vertrag genommen hätte. Im November letzten Jahres feierte die stille Größe anläßlich des zehnten "New Music America"-Festivals in New York ein aufsehenerregendes Comeback und gab sein erstes Konzert mit einem Sinfonie-Orchester.
"Niemand wollte mich! Es war einfach nicht die richtige Zeit. Vielleicht klang meine Musik damals in manchen Ohren deshalb so revolutionär, weil sie im Grunde total konservativ ist. Heute ist das Publikum mehr denn je an tonaler Musik interessiert. Yale Evelev, der Direktor des Festivals, hat mich ein ganzes Jahr lang suchen müssen, bis er mich gefunden hat."
Keiner hat gewusst, wo die einstige New Yorker lnstitution Moondog all die Jahre gesteckt hat. Des Rätsels Lösung: 1974 war der musizierende Clochard einer Einladung nach Frankfurt gefolgt. Er gab beim Hessischen Rundfunk ein vielbeachtetes Konzert, bei dem unter anderen auch die Elektroniker von Kraftwerk mitwirkten. Deutschland gefiel ihm so gut, daß er gleich dablieb. Seither wohnt er bei einer norddeutschen Familie am Nordost-Rand des Ruhrgebiets. Nur gelegentlich reiste er während dieser Zeit zu Konzerten im Ausland. Die kleine Plattenfirma Roof-Music kümmerte sich um den außergewöhnlichen alten Herrn. Ende der 70er Jahre entstanden drei Langspielplatten mit neuen Kompositionen, die jetzt als CD-Dreier-Box wiederveröffentlicht wurden.
Nicht zuletzt durch das erfolgreiche New Yorker Konzert steigt das Interesse an Moondog zusehens. Auch der junge Schweizer Musiker Stephan Eicher fragte an, ob Moondog nicht Lust hätte, das eidgenössische "Guggisberglied" in einer neuen Bearbeitung zu präsentieren. Das überaus bemerkenswerte Ergebnis befindet sich auf Eichers neuer CD "My Place" (Besprechung: HIFI VISION 4/1990).
Eine Frage muß wohl noch beantwortet werden: Warum hat Moondog so viele Jahre Wikingerkleidung getragen und warum verzichtet er jetzt darauf?
"Ich habe meinen christlichen Glauben schon vor langer Zeit abgelegt und mich früh mit der nordischen Sagenwelt und der 'Edda', beschäftigt. Ihre Gedankenwelt und die Art, wie sie gelebt haben, gefiel mir sehr; aus ihrer Lebensform habe ich eine Art Religion für mich geschaffen. Ich habe mir dann die Wikingerkleidung selbst hergestellt, einschließlich des Helms. Es gab damals durchaus Leute in New York, die sagten: 'Ich würde dir ja gerne helfen, aber zieh erst mal normale Kleidung an'. Worauf ich entgegnete: 'Wenn es daran liegt, dann brauche ich eure Hilfe nicht.' Als ich dann in den 70er Jahren nach Deutschland zog, da fragte mich die Familie, bei der ich lebte: 'Bist Du eigentlich Modedesigner oder Komponist?' Sie haben mich überzeugt, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen sollte, meine Musik zu machen und die Wikingerkleidung zu vergessen."