Zitty 5/1994

Johannes Waechter:
Ein Amerikaner in Deutschland: Moondog



Genau wie die Popmusik ist auch die moderne E-Musik eine Abfolge verschiedener Trends und Moden. Völlig unbeeinflußt von jeglichem Zeitgeist sitzt jedoch der blinde amerikanische Komponist Louis Hardin alias Moondog als letzter Klassizist am Rande des Ruhrgebiets, wo er nach einem bewegten, außergewöhnlichen Leben nun den Platz gefunden hat, mit voller Hingabe und ungebrochener Kreativitat an seinem Alterswerk zu arbeiten. Johannes Waechter sprach mit ihm über sein Leben und seine Musik.

"Als ich sechs Jahre alt war, nahm mich mein Vater mit zu einem Sonnentanz-Ritual im Reservat der Arapaho Indianer in Wyoming. Dort ließ mich der Häuptling Gelbes Kalb auf seinem Schoß sitzen und die groBe Sonnentanz-Trommel schlagen. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, da das mein erster wichtiger Kontakt mit Musik war". Zu dieser Zeit, 1922, konnte Louis Hardin noch sehen. Er lebte mit selnen Eltern und Geschwistern in einem ländlichen Amerika abseits von Industrie und Fortschritt in Dörfern wie Marysville, Kansas und Lone Tree, Wyoming, wo er auf einem Pferd in die in einer Blockhutte untergebrachte Schule ritt und nach dem Unterricht im Wald Fallen aufstellte oder angelte. Als Hardin sechzehn Jahre alt war, nahm sein Leben eine unerwartete Wendung: beim Spiel explodierten Zündkappen aus Dynamit in seinem Gesicht und nahmen ihm das Augenlicht. Der Verlust eines Sinnes hatte die Schärfung der noch übrig gebliebenen zur Folge. Besonders wichtig wurde ihm das Gehör, das er nach seiner Erblindung vor allem durch die dann von ihm entdeckte klassische Musik zu stimulieren wußte. "Ich besuchte die Blindenschule des Staates Iowa. Dort hörte ich zum ersten Mal klassische europäische Musik wie Bach und Beethoven auf alten Schellackplatten. Das war wie eine Erleuchtung für mich. Ich konnte kaum glauben, daß solch erstaunliche Musik existierte. Ich beschloß daraufhin, selber Komponist zu werden." Hardin begann, die Regeln, Methoden und Erscheinungsformen der klassischen europäischen Musiktradition mit äußerstem Eifer zu studieren. Ich lernte Instrumente wie Geige, Bratsche, Klavier und Orgel, übte mich in Harmonielehre, und brachte mir außerdem mit Hilfe von Büchern, die ich aus der Bibliothek in New York nach Iowa schicken ließ, die Regeln des Kontrapunkts bei." Seit seiner Jugendzeit hat Hardin ständig an der Steigerung seiner musikalischen Fähigkeiten gearbeitet. Unter Verzicht auf jegliche andere Beschäftigung lebt er seit damals für und durch seine Musik. Dieser Entschluß führte allerdings auch dazu, daß er die normalen Rahmenbedingungen des bürgerlichen Lebens wie Beruf, Wohnung, Familie und Besitz komplett mißachtete. 1943 zog er nach New York und lebte dort die nächsten 30 Jahre auf der Straße, da er das wenige Geld, das er hatte, lieber fur die Notation seiner Kompositionen ausgab, als daß er sich eine Wohnung gemietet hätte. Sein angestammter Aufenthaltsort befand sich an der Ecke 54. StraBe und 6. Avenue; aufgrund des ungewöhnlichen Wikinger-Kostüms - Kutte, Schild, Speer, gehörnter Helm -, das er stets trug, wurde er recht schnell recht bekannt in diesem Teil von Manhattan - eine Art lokales Wahrzeichen, dessen Exzentrik wohlwollend gebilligt wurde.
Weitgehend unbekannt war jedoch Hardins Identität als ernstzunehmender Komponist. Die einzige Gruppe von Leuten, die Hardins musikalische Fähigkeiten sofort erkannte und die wohl auch am ehesten die Ernsthaftigkeit seines Proiekts würdigen konnte, bestand aus anderen Musikern. "Kurz nachdem ich nach New York gekommen war, ging ich zum ersten Mal in die Carnegie Hall, um die New Yorker Philharmoniker zu hören. Ein Cellist, der mich schon auf der Straße gesehen hatte, stellte mich dem Dirigenten Artur Rodzinski vor, der mich daraufhin einlud, an allen Orchesterproben teilzunehmen. Später lernte ich Toscanini kennen, natürlich auch Leonard Bernstein. Ich saß direkt hinter Bernstein, als er mit einer landesweiten Rundfunkübertragung sein großes Debut gab. Wir haben uns auch später immer gut verstanden." Doch nicht nur Orchestermusiker erkannten, daß Louis Hardin, der sich 1947 den Künstlernamen Moondog zugelegt hatte, eine Ausnahmeerscheinung im Musikgeschäft war, auch die Jazz-Szene wußte den blinden Mann mit wallenden Haaren und Rauschebart zu schätzen. Zwei Blocks südlich von Hardins bevorzugtem Standpunkt fand damals in der 52. Straße die Bebop-Revolution statt, und ihr Führer, Charlie Parker, schaute häufig bei Hardin vorbei, um sich mit ihm über Musik zu unterhalten. Parker war von Hardins musikalischen Ideen so angetan, daß er eine gemeinsame Platte machen wollte; leider verstarb er jedoch, bevor es zu diesem sicherlich interessanten Projekt kommen konnte. Statt dessen erschienen in den fünfziger Jahren einige Platten von Moondog auf Prestige, die lange Zeit praktisch unauffindbar waren, nun jedoch auf Fantasy wiederveröffentlicht wurden. Seine bekanntesten Aufnahmen sind indes sicherlich die beiden AIben, die er 1969 und 1971 auf Columbia veröffentlichte. Zu diesen Alben - beides mit vollem Orchester realisierte und aufwendig gestaltete Projekte - konnte es kommen, da sich zu jener Zeit die Popkultur scheinbar etwas in Richtung E-Musik zu öffnen begann, was natürlich neue Märkte versprach. Karl-Heinz Stockhausens Kopf war auf dem Cover von Sgt. Pepper zu sehen, Vanilla Fudge coverten Beethovens Für Elise, und der sich andeutende "Artrock" versprach die Vereinigung von Symphonie und Backbeat zu einer neuen Form populärer Musik. Hardin sollte wohl dieser Bewegung zugeordnet werden, da sein extrem unkonventioneller Lebenstil und sein zeitgemäßes Äußeres (lange Haare, weite Gewänder) ihm die Sympathien des Hippie-Publikums garantierten, das auf der Suche nach Beispielen für anmystifizierte Lebensentwürfe außerhalb der gesellschaftlichen Normen war. Seine Musik machte solch trendbetontes Kalkül jedoch zunichte: wer die Platten hörte, konnte ihn nur von jeder Komplizenschaft mit Artrockern, aber auch mit Avantgarde-Komponisten, freisprechen, so unverkennbar klassizistisch und in Harmonie mit der Tradition sind diese. 1974 wurde Hardin vom Hessischen Rundfunk zu einem Konzert nach Frankfurt eingeladen, eine Reise mit weitreichenden Folgen: "Mir gefiel es so gut hier in Deutschland, daß ich nicht zurück nach New York geflogen, sondern einfach hiergeblieben bin. Schon bevor ich hierher kam, hatte ich mich immer wie ein Europäer im Exil gefühlt. Das lag an meiner Erziehung - meine Großmutter kam aus Deutschland und hat mit meiner Mutter zu Hause immer deutsch gesprochen -, aber auch an der Faszination, die europäische Musik und Kultur immer auf mich ausgeübt haben". Auch in Deutschland lebte Hardin zunächst auf der Straße. 1975 traf er jedoch die damalige Studentin Ilona Göbel, die von dem blinden Komponisten so beeindruckt war, daß sie ihm nicht nur ein Zimmer in ihrem Elternhaus in Oer-Erkenschwick anbot, sondern sich auch seitdem um ihn und sein Werk kümmert. Diese ungekannte Stabilität, die Hardin seit nunmehr 19 Jahren genießt, hat seinen Kompositionen hörbar gutgetan. Er hat vier Platten auf dem Bochumer Label Roof Music veröffentlicht, eine fünfte, Sax Pax For A Sax betitelte und mit Komposilionen für Saxophon bespielte, ist gerade herausgekommen. Auch in seinem jüngsten Werk sind die beiden Eckpfeiler seines musikalischen Kosmos deutlich zu hören. Die indianischen Rhythmen des "walking beat" und "running beat", die er aus seiner Kindheit herübergerettet hat, verleihen seiner Musik eine für Orchester- und Kammermusik ungewöhnliche Stetigkeit im Drang nach vorne, die in ihrer treibenden Luftigkeit durchaus "fremd" ist, sich also mit der anderen Komponente hörbar reibt. Diese andere Komponente ist die klassische: "Ich folge beim Komponieren den alten Regeln zu tonalen Relationen, die noch auf Pythagoras zurückgehen. In meiner Anwendung des Kontrapunkts bin ich zum Beispiel viel strenger als Bach und Beethoven, in deren Tradition ich jedoch trotzdem stehe."
In einer Zeil, in der die wichtigsle Funktion von Regeln ihre Durchbrechung ist, verwendet Hardin erstaunlich viel Energie darauf, jegliche Verstöße gegen Kompositionsregeln wie die Kontrapunkt- oder Kanon-Regeln aus seiner Musik zu entfernen. "ln einem sechzehnstimmigen Kanon gibt es zum Beispiel auf jedem Schlag in jedem Takt 120 verschiedene Möglichkeiten, Fehler zu machen. Will man diese Fehler vermeiden, so muß man seine Musik sehr sorgfältig analysieren. Das ist sehr langweilig und dauert außerdem viel länger, als ein Stück nur zu komponieren. Die meisten Komponisten haben sich deshalb nie die Mühe gemacht, ihre Stücke gründlich zu analysieren, weswegen man selbst den Meistern des Kontrapunkts wie Bach und Palestrina viele, viele Fehler nachweisen kann. Ich anaIysiere meine Stücke immer Note für Note". Doch warum diese Obsession mit der Regeleinhaltung, wenn Musik auch bei gelegentlichen Regelverstößen hervorragend klingt? Solche Musik, wie ich sie schreibe, klingt einfach dann mit Abstand am besten, wenn alles stimmt und alles zusammenpaßt. Mit diesem Bekenntnis zum Wohlklang grenzt sich Louis Hardin recht deutlich von der kompositorischen Avantgarde, die seit einigen Jahrzehnten das Feld der E-Musik beherrscht, ab. Am ehesten bestehen wohl noch Berührungspunkte mit den seriellen Kompositionstechniken der Minimal Music; die Wertung von Philipp Glass, einer der Vorväter der Minimal Music gewesen zu sein, lehnt Hardin jedoch entschieden ab. Ein ungleich größeres Greuel als Minimal Music, die ja wenigstens noch tonal ist, sind für ihn jedoch polytonale oder atonale Kompositionsstile. "lch könnte kaum mehr dagegen sein. Stockhausens Musik ist fur mich nur eine besondere Art von Geräusch, eine völlig leblose Angelegenheit." In dieser Einschätzung schwingt einerseits die Wahrnehmung des Blinden mit, für den es keinen Grund gibt, seinen besonders wichtigen klanglichen Erlebnisraum mit ihm unangenehmen Klängen zu belegen, nur um einer konzeptionellen Vorgabe zu entsprechen. Zum anderen demonstriert eine solche Äußerung seine künstlerische Unabhängigkeit: anders als in wertende Diskurse eingebundene Kollegen, für die die Tradition ein Biest ist, daß es zu erlegen und zu zerstückeln gilt, und die unter dem Druck des immensen Erfolgs der Popmusik in einer paniscnen Gegenreaktion den Wohlklang für nicht mehr verwendbar erklärt haben, muß er niemandem seine Fortschrittlichkeit beweisen. Nicht sehend, sondern nur hörend, sitzt Hardin also als lebender Anachronismus, als konsequentester denkbarer Klassizist, in seinem Zimmer in Oer-Erkenschwick und komponiert - im Kopf, wohlgemerkt, ohne Zuhilfenahme eines Melodieinstruments. Über 50 Symphonien hat der produktive Einsiedler fertig in der Schublade, außerdem hunderte von anderen Werken, darunter einen 1000stimmigen Kanon, dessen Aufführung neun Stunden dauern würde. Doch nur ein Bruchteil dieses immensen Materials wird wohl je aufgeführt werden, da Louis Hardin alias Moondog auch mit 77 Jahren noch zu obskur für den Mainstream und zu unkonventionell für die Philharmonien dieser Welt ist.
"lch bin umgeben von Orchestern, die ständig dieselben Mozart-Symphonien spielen, anstatt einmal ein Konzert mit mir zu machen. Ich hoffe, daß sich da noch etwas tun wird. Ich bin jedenfalls bereit."