aus / from: Weltwoche Nr. 4, 23. Januar 1992 p. 47

Christoph Biermann

Den Indianern war der Wikinger suspekt

Die unendliche Geschichte einer Entdeckung: Der bizarre Komponist Moondog - ein Porträt


So würden Kinder den lieben Gott malen. Aber der alte Mann mit dem freundlichen, würdevoll zerfurchten Gesicht, dem schlohweißen Haar und langen Bart, der bis auf den Bauch reicht, ist im Moment von ganz unhimmlischen Eifer befallen. Sein Kopf ist schon verschwunden - und fast muß man befürchten, daß er bald völlig im offenen Konzertflügel verschwunden sein wird.

Zunächst ist nur ein leises Schnaufen zu hören. Mit 75 Jahren wird die Suche nach dem richtigen Ton zu einer schweren Arbeit. Doch dann suchen die schlanken Finger in der Innenwelt des Instruments konzentriert die Saiten ab. Irgendwo muß er sein, der Oberton, der 16 Takte lang steht. "... fifteen, sixteen. That's it!" Moondog atmet tief durch. Das ist es - lang und klar!

Das Mikrofon ist bereits eingerichtet. Andi Toma korrigiert die Position noch ein wenig. Dann hüpft er zum Mischpult hinüber und überprüft die Aussteuerung. Es ist soweit. Wieder schlägt Moondog die Saite an. Der Ton schwebt 16 Takte lang in den Raum und wird im Speicher des Samplers aufgezeichnet. Er kann jetzt jederzeit aus dem Computer abgerufen oder über das Manual eines Keyboards sogar zu einer ganzen Melodie erweitert werden.

Die Platte, die hier aufgenommen wird, heißt "Elpmas", ein Ananym für "Sample", und das ist Programm. "Ich bin sehr glücklich darüber, daß ich mit Computern arbeiten kann. Das wollte ich schon seit Jahren", sagt Moondog mit einer für sein Alter erstaulich klaren und festen Stimme.

"Meine Musik ist so kompliziert, daß es ausgesprochen schwierig ist, Musiker zu finden, die sie fehlerlos spielen können."

Das Tonstudio, in dem Moondog aufnimmt, liegt auf einem Hinterhof in Düsseldorf-Bilk, ist halb Villa Kunterbunt und halb High-Tech-Ambiente. Hier lebt Andi Toma und nimmt sonst Songs mit seiner Gruppe Jean Park auf. Jetzt assistiert er einem Musiker, für den die Bezugspunkte seiner musikalischen Welt nicht Prince oder die Beach Boys, sondern Beethoven, Bach und Palaestrina sind.

Aber die seltsame Allianz zwischen dem 30jährigen Rockmusiker und dem genau 45 Jahre älteren Klassiker, der Einsatz von Computern bei der Aufnahme streng klassisch komponierter Musik funktionieren. Endlich ist Moondog nicht mehr auf die schwankende Präzision von Ensembles angewiesen, unter der er sonst so oft leidet. Die Gesetze von Tonalität und Kontrapunkt sind ihm nämlich heilig. Da reicht es schon, daß ein Instrumentalist sich nicht genau an das vorgegebene Tempo hält, und schon liegen Töne übereinander, die eigentlich nicht zusammengehören. Dann klingt es "muddy", einfach matschig, und Moondog, der sonst ein sehr humorvoller älterer Herr ist, wird ausgesprochen unduldsam.

"Ich bin der einzige Komponist, der den Kontrapunkt nicht verletzt", sagt Moondog voller Stolz. "Ob Beethoven, Mozart oder Blach, der als Meister des Kontrapunkts gilt, alle haben sie dagegen verstoßen. Auch bei mir schleichen sich Fehler ein, aber ich versuche, sie systematisch zu beseitigen." Daß es hier nicht um eine rein akademische Frage geht, wird auch ungeübten Hörer schnell klar.

Die Kompositionen von Moondog mit ihren einfachen Melodien, oft eingängig wie Kinderlieder, und den komplizierten, teilweise jazzigen Rhythmen oder vertrackten Kanonstrukturen lösen sein Versprechen ein, das Ohr nicht zu verletzen. Eine Klarheit, die fast therapeutische Qualitäten besitzt.

Ein selten durchmischtes Publikum wird davon angezogen. "Kommt total gut", wispert das Mädchen in der zweiten Reihe, streicht sich die langen Haare zurück und schließt die Augen. An diesem Abend in Münster - der Saal ist ausverkauft, der WDR zeichnet auf - ist Moondog so etwas wie ein New-Age-Star. Irgendwie kosmisch und meditativ. Mit Waschbärschwanz am Gürtel und Schellenhandschuh sitzt er vor der kleinen Gruppe Bläser und Streicher und dirigiert. Dann begleitet er die Musik mit leichter Perkussion auf einer kleinen indianischen Trommel, die "Stinky" heißt, mit Tierhaut bezogen ist und wirklich stinkt. So wird der liebe Gott für die Kinder zum Schamanen für die Jugend.

Moondog weiß sich zu inszenieren und hat Spaß daran, doch vor allem will er als seriöser Komponist anerkannt werden. Wenn auch als Außenseiter, so ist das inzwischen gelungen. Zweimal wurde Moondog bereits zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Im Sominer wird er wahrscheinlich auf der Documenta in Kassel zu hören sein. Das renommierte American Ballet Theatre wird demnächst mit einer Choreographie zu seiner Musik auf USA Tournee gehen. Der Minimalist Philip Glass gehört ebenso zu seinen Verehrern wie der Schweizer Rockstar Stephan Eicher, der Moondog einlud, auf seinem Bestseller "My Place" das "Guggisberglied" zu arrangieren.

Ein Stück vom "amerikanischen Traum" steckt hinter dieser späten Anerkennung. Du kannst es schaffen, wie schwierig die Umstände auch zu sein scheinen. Als Moondog, damals noch Louis Thomas Hardin, an den Bahngleisen in der Nähe des Elternhauses in Wyoming Sprengkapseln fand, explodierten diese und zerstörten sein Augenlicht. Er war gerade 16 Jahre alt.

Sein Vater, ein Wanderprediger, schickte ihn zur Blindenschule. Dort erhielt er drei Jahre lang eine musikalische Grundausbildung. Mit 27 Jahren ging er nach New York. "Im Herbst 1943 bin ich dort angekommen. Schon drei Wochen später habe ich den Dirigenten der New Yorker Philharmoniker kennengelernt. Artur Rodzinski war es auch, der mir erlaubte, bei allen Proben dabeizusein."

Fünf Jahre kam er fast täglich, hörte zu, lernte berühmte Solisten, Dirigenten, Komponisten kennen und übte eigene Kompositionen. In dieser Zeit verwandelte er sich auch in eine bizarre Figur: Er wurde Wikinger. "Ich habe begonnen, in der Edda zu lesen. Ich war auf der Suche nach meiner Identität, und in den Sagas fand ich sie." Fortan lief er mit gehörntem Helm, Speer und langem Umhang durch New York.

1948 brach der Wikinger in den Westen auf. "Ich hatte Heimweh nach dem einfachen Leben." Schon von Kind auf fühlte er sich von der indianischen Lebensweise, besonders aber vom Rhythmus ihrer Musik angezogen. So verbrachte er einige Monate in ihren Reservaten, kehrte dann aber nach New York zurück - den Indianern war der Wikinger suspekt geblieben.

Moondog, so nannte er sich jetzt nach seinem Blindenhund, der immer den Mond angeheult hatte, spielte an der Straßenecke auf seiner dreieckigen Trommel. "Das war ganz einfach. Ich hatte die Wahl: entweder auf die Straße, trotz Kälte und Regen, oder in einem Heim Matten und Körbe flechten. So eine Schattenexistenz wollte ich nicht."

Im Laufe von zwei Jahrzehnten feierte Moondog immer wieder kleine Erfolge mit seiner Musik. Mitte der fünfziger Jahre erschienen zwei LPs mit Kompositionen, die noch eher am Jazz orientiert waren. Mit Julie Andrews nahm er eine Platte mit Kinderliedern auf. Der Durchbruch aber blieb trotz sporadischer Würdigungen aus. So stand er doch wieder an der Ecke 54. Straße/Sixth Avenue und verkaufte eigene Gedichte und seine Schallplatten. Seine selbst in New York auffällige Erscheinung hatte ihn längst zur Sehenswürdigkeit gemacht, und das "Hilton Hotel" warb in einer Zeitungsanzeige: "Sie finden uns gegenüber von Moondog."

Seit 1974 ist die Straßenecke ohne ihr Wahrzeichen. Moondog, der einem Engagement des Hessischen Rundfunks in Frankfurt gefolgt war, blieb im Land seiner Ahnen, im Land Beethovens und Bachs. Die Einladung eines Fans führte ihn nach Recklinghausen, bis die Odyssee des damals 69jährigen vor einer Apotheke im benachbarten Oer-Erckenschwick endlich ein Ende fand.

"Viertel, third space. Viertel, fifth line, verbunden. Ganze, first line", diktiert Moondog zweisprachig, und die Feder huscht über das Notenpapier. Diese Geheimsprache im Wohnzimmer in Oer-Erckenschwick steht für seine Musik. Gestochen scharf hat Ilona Göbel die Noten aufgeschrieben. Tausende von Seiten hat sie notiert, seit sie den Wikinger vor 16 Jahren an der Apotheke angesprochen hat. Seither wohnt er hier am Rand des Ruhrgebiets, im Elternhaus der Mittdreißigerin. Ilona Göbel notiert aber nicht nur seine Kompositionen, sondern ist auch Moondogs Betreuerin und Managerin.

"She is my eyes", sagt Moondog. Ihr zum Gefallen hat er sogar seinen Helm gegen eine Wollmütze getauscht und den Speer weggelegt, denn er weiß, daß er Ilona seine späte Kreativitätsexplosion und seinen Erfolg verdankt. Er komponiert fast unablässig, nur von wenigen Stunden Schlaf und Spaziergängen auf dem Balkon unterbrochen. Beharrlich erforscht er die Gestze der Obertonreihe. Immer gewaltiger werden die Werke, die er entwirft.

"Ich habe den Wunsch, etwas zu erschaffen. Die Wikinger sagen: Unsterblich wird man nur dadurch, daß sich die Menschen an dein Tun erinnern." Dann stützt er sich auf seinen Stock und lächelt. Doch, doch. So würden, trotz der Wollmütze, die Kinder auch einen Wikinger malen.