aus / from: Neue Westfälische, 15. Februar 1994

König des Kontrapunkts: Louis Hardin alias Moondog und das "Dubonaire Saxtett"
Kanons mit Hufen und Jazzvirus

Von Thomas Klingebiel

Gütersloh. Achtung, Klassik! Die Musiker in strenges Schwarz gehüllt, im Halbrund um den Dirigenten gruppiert. Zwischen den einzelnen Sätzen der Suite bitte keinen Applaus; der Konzentrationsbogen leidet sonst arg unter solch banausischem Unfug. Doch, pardon, wo steckt eigentlich der langbärtige Maestro? Eben noch thronte er, den Paukenschlegel fest im Griff, vor seiner museumsreifen Baßtrommel und grundierte die dicht verschränkten Saxophon-Melodien des "Dubonaire Saxtetts" mit einem eisern durchgehaltenen 4/4-Takt. Hinter der Kesselpauke hockt er nun und klopft handschuhbewehrt eine Pferdegangart, den "Single foot"-Rhythmus, aufs Bühnenparkett. Moondog - das ist Klassik gleichsam als kontrollierte Ausschweifung: Da legen Kanon und Kontrapunkt Hufeisen an, schäkern mit Foxtrott und Mambo, lassen sich ungeniert vom Jazz-Virus infizieren und schlagen doch niemals über die Stränge tonaler Stimmführungsregeln.

Louis Hardin (77), genannt Moondog, blinder Komponist und Musiker, unumstrittener König im einsamen tonsetzerischen Grenzgebiet zwischen Johann Sebastian Bach und Charlie "Bird" Parker thront am Bühnenrand inmitten seines stattlichen Trommel- und Handschuharsenals und zieht alle Blicke in der Aula des Städtischen Gymnasiums auf sich.

Sparsame Fingerzeige

Unbeirrbar gibt das weißhäuptige Unikum den Takt an, verunsichert die Musiker gelegentlich durch ein unverhofftes accelerando, dirigiert ansonsten mit sparsamem Fingerzeig die Einsätze und läßt hin und wieder am Ende eines Stücke, Zeichen wohliger Genugtuung, ein brummiges "Yeah" vernehmen. Allein die Anwesenheit dieser legendären Figur der New Yorker Musikszene der fünfziger und sechziger Jahre dürfte bei vielen der rund 350 Zuhörer den Ausschlag für ihr Kommen gegeben haben - trotz Kälte und Glatteis.

Der Gütersloher Abend war eine Hommage an den Erfinder des Saxophons, Adolphe Sax, dessen Todestag sich am 4. Februar zum einhundertsten Mal jährte. Das Braunschweiger "Dubonaire Saxtett" trat fast mit der gesamten Saxophonfamilie an, vom Sopran- über Alt-, Tenor- und Bariton- bis zum Baßsaxophon, teils in doppelter Besetzung. Der alte Sax hätte seine Freude gehabt. Schon der Eröffnungssong "DogTrot", Louis Hardins in den 40er Jahren ersonnene Antwort auf den damals gerade modernen Foxtrot, machte mit allen Facetten seiner eigenwilligen "Zajaz"-Musik (wie er seine Saxophon-Kompositionen nennt) bekannt: durchgängig gleicher Trommelbeat, darüber geschichtet gemustertes Gewebe kontrapunktischer Kanons. Wenn der Höhepunkt der eingängigen, sich zumeist dynamisch steigenden Stücke in Sicht kam, bearbeitete Moondog mit der Linken zusätzlich die Kesselpauke und sorgte so für dramatische Schlusseffekte.

Der Schritt vom hochkomplexen Kompositionslabyrinth ("Present for the Prez", mit einem tadellosen Solo des jungen Tenorsaxophonisten Tilman Ehrhorn) zum naiv-melodienseligen Kinderliedhaften fiel Moondog nie schwer: Songs wie "Paris", "New Amsterdam" und "Shakespeare City" ließen einmal mehr ihre Ohrwurmqualitäten aufleuchten.

Zwischendurch gab es musikalische Kleinodien wie "Sandalwood" zu hören, ein fünfstimmiges Werk aus den fünfziger Jahren, bei dem Moondogs legendäre Dreieckstrommel aus alten New Yorker Tagen wieder zum Einsatz kam: schlichte, luftig-leichte Musik, so klar und rein, wie heutzutage nicht einmal mehr Gebirgsbäche sind.

Das neunköpfige "Dubonaire Saxtett" unter Leitung von Hans-Wilhelm Goetzke spielte, gemessen an der gewiß nicht üppig bemessenen gemeinsamen Probenzeit mit Hardin, korrekt und konzentriert, noch etwas befangen vielleicht und notenverhaftet, doch im Laufe des Abends zusehends gelöster und freier. Der Gütersloher Pianist Burkhard Werner offerierte drei Solo-Klavierstücke Moondogs: achtbar, wenngleich er der "Jazz Suite Nr. 1" mit ihren schmissigen Ragtime-Elementen doch einiges an Lebendigkeit schuldig blieb.

Zwei heftig erklatschte Zugaben beendeten einen rundum lohnenden Konzertabend. Moondog reckte zum Schluß den Paukenschlegel triumphierend in die Höhe. Er beendete seinen ersten Gütersloher Auftritt eindeutig als Sieger.