Moondog, bürgerlich: Louis Hardin, geb. am 26.5.1916 in Marysville/Kansas, Sohn eines protestantischen Missionars und einer Lehrerin; verlor als 16jähriger sein Augenlicht bei einer Explosion in Missouri; High School-Abschluß in Iowa, Unterricht in Orgel und Violine, Besuch der Musikhochschule in Memphis; bezeichnet sich, was das Komponieren betrifft, als Autodidakt. Den Namen "Moondog" gab er sich 1947, in Erinnerung an seinen Hund in Missouri.
Sein Werk umfaßt sehr unterschiedliche Gattungen: darunter Madrigale, Orchesterwerke, Orgelstücke, Streichquartette, Jazz, sein Album "H'art Songs" (1978) zeigt Analogien zu frühen BEATLES-Songs, wäre es auf einem bekannteren Label veröffentlicht, hätte es vielleicht den Status eines erfolgreichen Rock-Albums. Hardin komponiert zwar in unterschiedlichen Stilen, aber jeweils mit der gleichen - kontrapunktischen - Methode: Ziel ist es, mit klassischen Techniken zu un-klassischen Klängen zu gelangen. Auch wenn er sich musikalisch nicht als Außenseiter sieht, steht er doch abseits der Institutionen des deutschen Musiklebens. In jüngster Zeit erfährt er eine gewisse Aufmerksamkeit durch Rock- und Jazz-Anhänger, die wohl auch deshalb einen leichten Zugang zu seinen un-klassischen Klängen finden, weil er zu seinen Kompositionen bisweilen selbst Perkussion spielt. Die Professionals haben ihn schon etwas eher entdeckt: eine US-Gruppe namens INSECT TRUST hat eines seiner Stücke übernommen, Janis Joplin hat sich 1970 an seinem Madrigal All ist Loneliness versucht - mit einem Resultat, das nicht im mindesten die Anerkennung des Komponisten findet. Sehr zu seinem Erstaunen ist sein Name aus der Perspektive der Rockszene mit einem dichten Nebel aus Legenden und Mythen umhüllt - als Grund dafür diagnostiziert er wohl zu Recht eine große Unkenntnis (von der vor allem Paul Simon hochprozentig beduselt war, als er vor ein paar Jahren in einer US-TV-Talk Show meinte, Moondog, eines seiner großen musikalischen Vorbilder, sei verstorben). Die vermeintliche "living" oder "dead legend" lebt freilich in gänzlich undramatischen Verhältnissen, in einem "Komponisten-Paradies", wie er es nennt: einer gutbürgerlich eingerichteten Mietwohnung in 4353 Oer-Erckenschwick (das ist am nordöstlichen Rand des Ruhrgebietes) bei einer Familie, die ihn dort vor drei Jahren aufgenommen hat.
Ich habe gelesen, John Wesley Harding sei einer Ihrer Vorfahren gewesen. Ist das derselbe J. W. H., über den Bob Dylan seinen bekannten Song geschrieben hat?
Ja, Dylan hat aber den Namen verändert und ein G angehängt, weil er meinte, das sei leichter zu singen. Richtig muß es aber Hardin heißen, H-a-r-d-i-n.
Wer war John Wesley Hardin?
Er war Texaner -
- und soll mit 20 Jahren bereits 18 Leute ermordet haben.
Nein, man hat dafür nicht den Begriff "Mord", sondern nur "Töten" verwandt. Er ist nicht hingegangen und hat die Leute aus purer Lust am Schießen getötet; ich glaube, in allen Fällen hat es sich um Selbstverteidigung gehandelt. Die Leute haben nach seinem Leben getrachtet, weil er so geschickt war. Um sein Leben zu schützen, mußte er also die Waffe ziehen und schießen. Aber das alles ist ja zu einer Zeit geschehen, wo es kein Gesetz gab; jeder war sein eigener Gesetzgeber, jeder sein eigener Polizist. Es war allgemein üblich, daß jeder ein oder zwei Waffen trug. Ich hatte auch mal einen großen 45er-Revolver, als ich elf Jahre alt war.
Brauchten Sie denn schon einen?
Nein, aber ich hatte halt einen! Als ich zum erstenmal geschossen habe, gab es einen so starken Rückstoß, daß mir der Revolver aus der Hand gefallen ist, so heftig war die Explosion.
Im November 1943 sind Sie nach New York gezogen, zum "Big Apple", wie die Stadt im Jazzmusiker-Jargon heißt. Und Sie sind dort ähnlich wie der legendäre Jazzmusiker angekommen, nur mit ein paar Dollar in der Tasche. Wie konnten Sie als Blinder überhaupt in New York durchhalten?
Ich hatte 60 Dollar und kannte niemanden. Zufällig traf ich ein Modell, das mir einen Job in einer Kunstschule beschaffen konnte, und zwar Modellsitzen. Später habe ich Artur Rodzinski (Dirigent der New Yorker Philharmoniker) kennengelernt, der mir erlaubt hat, den Proben der Philharmoniker beizuwohnen. Die Orchestermitglieder haben für meine Zimmermiete Geld gesammelt, ich brauchte mich also um Geld und Essen nicht zu sorgen und habe die meiste Zeit dem Orchester zugehört. Dadurch habe ich wertvolle Lektionen über das Orchestrieren gewonnen.
Aber was hat Ihnen die Kraft verliehen, in New York zu überleben?
Der Wille durchzuhalten, der Wunsch, im Bereich der Musik etwas zu werden. Das war zwar schwierig, aber auch eine gute Schulung. Ich war 30 Jahre lang dort, während der Zeit habe ich weitergelernt, habe komponiert, war in ein paar Shows im Fernsehen und im Radio, habe Konzerte gegeben und ein paar Platten gemacht.
War Ihre Musik damals ähnlich wie heute?
O ja. Meine Musik hat sich nicht im mindesten verändert. Sie ist immer noch tonal, und das wird sie auch immer sein.
In Ihrer Musik verwenden Sie traditionelle europäische Musikformen: Kanon, cantusfirmus, Ground, Chaconne, kontrapunktische Techniken ganz generell. Aber der Sound ist nicht klassisch. Im Covertext des CBS-Orchesteralbums haben Sie geschrieben, daß Sie klassische Mittel benutzen, um zu einem unklassischen Ziel zu gelangen. Wollen Sie verschiedene Gattungen miteinander verschmelzen?
Nun, ich bin Subjekt vieler Einflüsse. Ich komponiere in vielen unterschiedlichen Stilen, die aber alle tonal sind. Wenn man also einen Stil meiner Kompositionen gehört hat und nicht weiß, von wem sie stammt, und dann einen anderen Stil von mir hört, könnte man denken, es handele sich um zwei verschiedene Komponisten. Aber ich schreibe in vielen Stilen, von Jazz über Primitiv bis zu Esoterisch und Ultra-Klassisch usw. Wenn man einen Diamanten zerschlägt, dann sieht man diese kleinen Facetten, ein Diamant hat viele Gesichter. Das gleiche gilt für meine Musik, sie hat auch viele unterschiedliche Gesichter.
Könnte man Ihre Methode als zeitgenössischen Bezug zur klassischen Musik bezeichnen?
Klassische Musik, das ist Mozart und Haydn beispielsweise. Ich schreibe Musik, die nicht so klingt. Meine Musik ist zwar genauso tonal, aber sie hat nicht diesen homophonen Klang, den man normalerweise mit der Musik der Beethoven-Mozart-Haydn-Periode assoziiert. Ich kombiniere z. B. Perkussion mit einer Kirchenorgel auf dem Album "A new Sound of an old Instrument". Ich verwende dabei ebenso klassische Techniken wie Kanon, Kontrapunkt usw. - und trotzdem, das Endprodukt klingt nicht klassisch. Ich weiß nicht, ob jemand anders auch so arbeitet. Alles, was ich schreibe, egal ob es primitiv klingt oder asiatisch oder nach Jazz, ich gehe dabei immer von einem klassischen Gesichtspunkt aus, obwohl das Ergebnis dann nicht danach klingt. Das ist ein begrifflicher Widerspruch, ein Paradoxon.
Wie erklären Sie sich Ihr großes Interesse an klassischen Techniken?
Es gibt etwas in meiner Natur, das am besten in der strengsten Form gedeiht. Und Musik in ihrer strengsten Form ist ein Kanon, Poesie in ihrer strengsten Form ist ein Couplet! Diese beiden Formen sprechen mich am meisten an, weil - und hier kommt ein weiterer Widerspruch - ich eine "Freiheit in Knechtschaft" habe. Die Begrenzung ist eine strikte Form, und innerhalb der Grenzen besitze ich Freiheit. Nun werden andere Komponisten einwenden: wenn sie in einer strengen Form schreiben sollen, dann wären sie nicht frei. Ich wiederum fühle mich nicht frei, wenn ich keine Form benutzen kann.
Warum sprechen Sie sich so stark gegen atonale, polytonale und elektronische Musik aus?
Weil ich meine, daß sie unnatürlich ist. Akustische Musik ist natürlich; ich glaube, daß sie der emotionalen Natur des Menschen entspricht. Aber es ist schon ein Phänomen, diese atonale, polytonale, wie immer Sie sie nennen wollen, computerisierte, elektronische Musik wird nur von einer Minderheit der Weltbevölkerung aufgeführt und gehört. Ich würde sagen, daß über 99% der Menschen in der ganzen Welt tonale Musik hören und mögen. Die anderen sind eine winzige Fraktion, und ich glaube, daß sie ganz verschwinden wird; das ist ein Glimmstengel, der erlöschen wird.
Wenn man das offizielle Musikleben dieses Landes betrachtet, mit seiner seltsamen Unterteilung in U- und E-Musik, also in Unterhaltungs- und Ernste Musik, zu welcher Kategorie gehören Sie? Oder fühlen Sie sich als musikalischer Außenseiter?
Ich glaube, was ich mache, gehört mehr zum E, ich fühle mich mehr dem Seriösen verbunden. Und zwar deshalb, weil selbst ein Jazzstück von mir, Good for Goodie beispielsweise, in strikter klassischer Form angelegt ist, es ist ein 17teiliger Kontrapunkt im strengsten Stil. Und dennoch klingt es nicht danach, sondern wie improvisierter Jazz. Technisch und prinzipiell aber ist es streng klassisch, niemand komponiert so.
Aber Sie werden mir doch sicher zustimmen, daß auch die sogenannte E-Musik Unterhaltungswert besitzt!
O ja. Viele denken z.B., Tanzmusik wäre nicht klassisch, aber vieles von Mozart, Bach und anderen basiert auf Volksmusik, ja sogar einige Bach-Choräle - das muß man sich mal vorstellen - waren ursprünglich Melodien, die in Tavernen und Bierhallen gesungen wurden. Das waren weltliche Stücke, und da Bach wußte, daß sie so populär waren, dachte er, wenn er sie in die Kirche bringt und sakrale Worte dazu schreibt, können die Leute etwas damit anfangen. O Haupt voll Blut und Wunden war eigentlich ein sehr populäres weltliches Stück, dessen Text mit Religion überhaupt nichts zu tun hatte.
Noch mal - bezogen auf die beiden großen Musik-Kategorien: halten Sie sich für einen Außenseiter?
Nein, das bin ich nicht. Ich bin mehr der europäischen Musik verbunden als allem, was aus Amerika kommt, obwohl ich auch mit Jazz zu tun habe. Es macht mir Spaß, Jazzstücke zu schreiben, aber mein Herz steckt doch nicht mittendrin, es schlägt in der klassisch-europäischen Tradition.
In Ihrer Musik gibt es häufig ungerade Metren, sehr oft taucht ein 5/4-Takt auf. Ist das Ihre Lieblingsform?
Ende der vierziger Jahre habe ich in New York mit 5er- und 7er-Metren angefangen und mich einige Zeit darauf konzentriert, weil ich mit etwas Unkonventionellem dem Kritikerurteil entgegenkommen wollte, ich sei originell. Aber nachdem ich Resonanz und Anerkennung wegen exotischer Rhythmen erzielt hatte, begann ich auch wieder in 4er-, 3er-und 6er-Rhythmen zu schreiben. Heute komponiere ich in allen Rhythmen, ich bin nicht wie damals auf 5er und 7er festgelegt. Ein 5er-Takt ist im übrigen nicht so ungewöhnlich, sogar hier in Deutschland habe ich Volksmusik gehört - ich glaube aus Bayern -, die einen 5/4-Takt hatte.
Sie haben Marschmusik für Blaskapellen komponiert und daran gedacht, diese vielleicht von Militärkapellen aufführen zu lassen. Entsteht da nicht die Gefahr von Mißverständnissen?
Märsche sind im Grunde weltweit populär. Mein Vater war ein protestantischer Missionar, und die ersten Musikstücke, die ich überhaupt auf seinem Phonographen gehört habe, waren Militärmärsche von Sousa. Durch meinen Vater habe ich also eine große Gewöhnung an Märsche, und diese sind natürlich eine Facette in meiner musikalischen Bibliothek. Ich mag Marschmusik, ich werde nie dagegen sein, weil sie Teil meiner Kindheit ist.
Die meisten Komponisten arbeiten ihre Themen am Piano aus, Sie allerdings haben wohl eine andere Kompositionsmethode?
Ja, ich sitze am Tisch mit einer kleinen Metallschablone, da bohre ich Vertiefungen durch ins Papier, und dabei höre ich die Musik in meinem Kopf.
Stimmt es, daß Sie einige Stücke sogar auf der Straße in New York komponiert haben?
O ja, sogar sehr viele. Als ich in New York war, habe ich zwei Bücher mit Kanons für Keyboards - 25 Stücke in jedem Buch - auf der Straße geschrieben, außerdem viele Madrigale, von denen ich etwa 300 komponiert habe. Ich muß nicht in einem Raum sein, ich kann auch draußen komponieren, selbst Verkehrslärm stört mich nicht dabei. Das einzige, was mich dabei aufregen kann, ist fremde Musik.
Sie haben eines Ihrer Stücke Charlie Parker gewidmet. Wie war Ihre Beziehung zu ihm, und was hielten Sie von seiner Musik?
Ich habe ihn mehrmals auf der Straße getroffen, und er meinte, er würde gerne mal eine Platte mit mir machen. Ich habe zugesagt, und als ich ihm eines Tages die Hand gab, da war sie sehr zittrig, und das nächste, was ich hörte, war, daß er tot sei.
Wie hätte eine solche Platte denn ausgesehen, wo Sie doch beide so unterschiedliche Musikrichtungen vertreten?
Wir hätten schon was zusammengekriegt, er wollte etwas mit meinem Schlagzeug und seinem Saxophon. Wir hätten wohl improvisiert. Als er gestorben war, habe ich dieses Stück in Erinnerung an ihn komponiert und für das CBS-Album aufgenommen ("Lament 1").
Was hielten Sie von seiner Musik?
Ich mochte ihn lieber, wenn er allein spielte, denn seine Streicheraufnahmen hatten einen sehr schlechten Kontrapunkt. Aber seine Technik war phantastisch, er war ein hervorragender Musiker.
Wie ist denn Ihre Beziehung zum Jazz allgemein?
Ich komponiere Jazz, es macht mir auch Spaß, aber alle Teile sind dabei auskomponiert, und auch die Synkopen stehen in der Partitur. So ist also auch der Symphoniker, der normalerweise keinen Jazz spielen kann, in der Lage, meinen Jazz zu spielen. Wenn er nur genau liest, was er sieht, wird die Musik so synkopiert herauskommen, als wäre sie improvisiert.
Können Sie denn auch off-beat-Akzente hineinkomponieren?
Ja, die sind alle bereits mit eingearbeitet. Wenn Sie mal in die Partitur von Good for Goodie hineinschauen, sehen Sie, daß alle off-beats, alle Kreuzrhythmen schon dastehen. Der Interpret muß also nur genau das spielen, was er sieht, dann wird es genau wie improvisierter Jazz herauskommen.
Einige der Songs auf dem "H'art Songs"-Album haben mich stark an die sanfteren BEATLES-Stücke erinnert.
Ja, sie stehen deutlich in dieser Tradition. Die BEATLES-Musik habe ich immer gemocht, sie ist tonal, sie besitzt Melodien und interessante Texte. Ich glaube, solche Stücke werden ewig leben.
Wie ist denn Ihr Verhältnis zur Rockmusik allgemein?
1.: Ich mag keine Elektronik und 2.: viele Leute in der Rockszene haben mit Drogen zu tun, und ihr Spiel und ihr Gesang klingt auch danach. Das finde ich sehr abstoßend und dekadent, das ist ein ungesunder Sound. Ich weiß, die BEATLES waren auch drogenabhängig, aber trotzdem waren sie noch zu einem beachtlichen Maß an Natürlichkeit fähig. Einige ihrer Stücke mag ich sehr, z. B. Yesterday und Michelle. Ich meine, daß das sehr gute Songs sind.
Der starke Drogen-Bezug in der Rockszene ist aber doch eher ein Phänomen der sechziger Jahre, heute ist das doch stark abgeklungen!
Ich hoffe, daß das ausstirbt. Wenn es noch mehr Drogen-Razzien gibt, wie z. B. in England, wo man einmal LSD im Werte von 6 Mill. Dollar beschlagnahmt hat, wird sich sicher einiges ändern. Es war einmal genügend LSD vorhanden, um die USA für 24 Stunden lahmzulegen. LSD ist ein Gehirn-Killer.
Wie erklären Sie sich, daß viele Leute, die auf Jazz und Rock stehen, auch Ihre Musik mögen?
Nun, das ist ein Teil ihrer Präferenzen.
Aber was könnten die Gründe dafür sein?
Also ich kann mir nicht vorstellen, daß sie meine Musik nicht mögen würden. (lacht).
Sie sind 1974 zusammen mit dem Organisten Paul Jordan für ein paar Konzerte in die Bundesrepublik gekommen. Wollten Sie von vornherein hierbleiben, oder hat sich das einfach so ergeben?
Ich wollte ursprünglich gleich nach dem Konzert zurück. Als ich aber hier war, da war ich so beeindruckt von den Menschen, von ihrer Freundschaftlichkeit, ihrer Wärme, der ganzen Atmosphäre, daß ich mich entschieden habe, nicht mehr in die USA zurückzugehen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hier bleiben könnte, ich wollte bloß nicht mehr zurück.
Haben Sie, was das Publikum betrifft, einen großen Unterschied zu Amerika festgestellt?
Die Resonanz des Publikums in Frankfurt war elektrisierend. Am Ende des Walzers in 5/4, In Louisiana, standen sie auf, stampften mit den Füßen und schrien - es war phantastisch. Wirklich, ich fühlte mich - wie man so schön sagt - wie auf einer Wolke. Es gab aber Unterschiede: in Frankfurt war es enthusiastisch, da waren tausend Leute im Studio. Dann, bei einem kleinen Konzert in einer Musikschule in Hannover waren die Studenten sehr zurückhaltend. Und ein Kritiker sagte: "Ach ja, Moondog ist der Großvater Moses der Musik", sehr unfreundlich. Aber man kann halt nicht alle zufriedenstellen. Keine Ahnung, vielleicht stand der Kritiker auf Moses. Dann war's wohl ein Kompliment.
Welche Informationen haben Sie über die deutsche Musikszene?
Ich höre mir Programme mit moderner deutscher Musik an, einiges davon klingt nicht im mindesten nach Musik, das ist Krach. Ich habe ein paar Sachen von Stockhausen gehört, ich würde sagen, die eignen sich für einen Irrenhaus-Film, als Hintergrundmusik dafür wären sie ganz gut. Aber ich würde verrückt, wenn ich da länger zuhören müßte. Und ich bin nicht der einzige, der so denkt.
Aber Sie bezweifeln doch nicht Stockhausens musikalisches Existenzrecht?
Natürlich nicht, ich würde sein Recht verteidigen, auf jeden Fall!
Können Sie denn anerkennen, daß er einige musikhistorisch wichtige Dinge leistet hat?
Das kommt darauf an, würde ich sagen. Es gibt Leute, die das mögen, die ihn sicher in jeder Beziehung unterstützen, und so sollte es auch sein. Andererseits glaube ich aber, daß er auf meine Musik ebenso reagiert wie ich auf seine. Und auch das sollte so sein. Ein Komponist sollte daran glauben, was er tut, und er sollte sich nicht schämen zu sagen, was er nicht mag. Alles andere wäre Heuchelei.
Wenn man Artikel über Sie liest, vor allem solche aus den vierziger Jahren, bekommt man den Eindruck, daß Sie immer ein Individualist und Nonkonformist gewesen sind. Hat Sie das nicht in Konflikte gebracht?
In ständige Konflikte!
Wie haben Sie das aushalten können?
Es war schwierig. Man hat mir ständig erzählt, ich würde meinem eigenen Licht im Wege stehen, ich würde niemals vorwärtskommen, wenn ich nicht konform ginge. Und ich sagte: 0.k., dann komme ich eben nicht voran. Ich sagte, die Leute müssen mich so akzeptieren, wie ich bin, oder eben gar nicht. Ich habe so weitergemacht, habe etwas erreicht, wenn auch nicht viel. Ich habe Platten gemacht, war im Fernsehen, im Radio usw. Aber erst durch Ilona Göbel habe ich mich überzeugen lassen, nicht mehr die Kleidung zu tragen, die ich sonst immer anhatte. Ich mag diese Kleidung immer noch, aber sie meinte: "Du hast das dreißig Jahre lang getragen und hast nichts erreicht damit, warum versuchst du es nicht auf eine andere Art und wartest mal ab, was geschieht?"
Dabei gibt es doch sicher auch eine Protest-Dimension?
Ja, es war immer Protest. Ich habe mich deshalb anders gekleidet, weil es mich ärgert, daß die Gesellschaft dir diktieren kann, was du anziehst, was du denkst, was du ißt, wie du dich verhältst - alles ist reglementiert. Die Kleiderfabrikanten bringen eine neue Mode heraus und sagen: "Das mußt du jetzt tragen, weil es jeder trägt"; im nächsten Jahr oder alle vier Monate ändern sie dann die Mode. Du mußt dich anpassen, weil's jeder andere auch tut. Das ist Reglementierung, das hasse ich. Und ich habe meine Auffassung darüber auch nicht geändert.
Aber bezüglich der Kleidung haben Sie Ihre Haltung doch geändert?
Habe ich nicht, nur - daß ich die Sachen im Moment nicht trage, ich habe mich nicht geändert.
Sind Sie Anhänger einer bestimmten Philosophie oder politischen Richtung?
In dem Song I'm in the World übernehme ich eine Textzeile von Jesus, wo er sagt: "Ich bin in der Welt, aber nicht von ihr." Das verwende ich als Refrain zwischen den Versen, die aussagen, was ich meine. Und wenn man mich nach diesem Song beurteilt, könnte man sagen, daß ich ein Außenseiter bin, nur ein Beobachter, ein Zuschauer und daß ich nicht mit vielen Dingen zu tun habe, die ich nicht mag.
Ist das Ihre Position?
Es ist eine, ja. Aber es ist nur eine Facette; ich habe viele andere, dieser Song zeigt aber eine Seite meiner Natur. In Amerika habe ich einmal Roosevelt gewählt, aber nachdem ich herausgefunden habe, daß Wahlen nur ein Jux sind, weil es ein Wahlmänner-Gremium gibt, daß die direkte Wahl der Leute nicht zählt, daß nur eine Gruppe entscheidet, wer Präsident wird, als ich das entdeckt hatte, habe ich nicht mehr gewählt, weil das Ganze eine Farce ist.
Wenn Sie einmal an eine ideale Gesellschaft denken; wie könnte die nach Ihrer Vorstellung aussehen?
Die ideale Gesellschaft? Ich glaube, die einzige, die wirklich funktioniert, ist eine auf Stammesebene. Sobald man diese Ebene verlassen hat, bricht alles zusammen, wird zu groß. In Stammesgesellschaften oder -gemeinschaften fühlen sich die Leute füreinander verantwortlich, sie helfen einander. Und sie sind bereit, ihre Gemeinschaft zu verteidigen - falls notwendig, sogar mit ihrem Leben. Der Sinn eines Stammes war: wenn einer in Schwierigkeiten gerät, helfen ihm alle anderen Stammesmitglieder und umgekehrt. Das aber setzt Verantwortungsbewußtsein voraus, man muß bereit sein, den anderen zu helfen, weil sie auch mir gegenüber dazu bereit sind. Und dann funktioniert so etwas. Aber wenn eine Gesellschaft zu groß wird, wenn sie über die Stammesebene hinauswächst, bricht alles Verpflichtungsbewußtsein zusammen, nach der Devise: "Geht mich nichts an, ich bin nicht für die anderen verantwortlich." Wir können nicht mehr zur Stammesgesellschaft zurück, das ist sehr schade.
Was soll man machen, welche Lösung würden Sie vorschlagen?
Ich glaube nicht, daß es eine Lösung gibt. Wir können nicht mehr zurück, aber ich wünschte, wir könnten es. Stammesgesellschaften gibt es in vielen Teilen der Welt, in Afrika, Asien und unter den amerikanischen Indianern. Und sie raten uns, ihrem Beispiel zu folgen - die Welt wird zerstört, wenn wir nicht zum Stammeskonzept zurückfinden.
Zeugt das nicht von Resignation, wenn Sie bedauern, daß wir nicht mehr zur Stammesgesellschaft zurückkönnen?
Ich sehe, daß Städte und Staaten immer größer werden, daß sich der Abstand zwischen der zentralisierten Regierung und dem Individuum weiter vergrößert, daß der Staat immer mehr Macht an sich reißt, das Individuum aber immer unbedeutender wird. Es ist schlimm, aber das Individuum zählt überhaupt nicht mehr. Es gibt immer mehr Restriktionen, immer weniger Freiheit - es ist erschreckend. Ich kann nur hoffen, daß die Mitglieder ethnischer Stammesgemeinschaften durchhalten und die sogenannten Industriegeselischaften veranlassen, ihre Politik zu ändern.
Glauben Sie manchmal, daß es gut ist, nicht mehr unter den Jungen zu sein?
Ich bin sehr gerne unter jungen Leuten, das hilft mir, jung zu bleiben. Solange sie nichts mit Drogen zu tun haben, mag ich junge Leute sehr.
Würden Sie denn - wenn es ginge - gerne noch einmal jung sein? Haben Sie bisher ein interessantes Leben verbracht?
Ich würde gerne noch einmal jung sein, wenn ich nicht noch einmal alles wiederholen müßte. Wenn ich noch einmal jung wäre und mit der Erfahrung, die ich jetzt besitze - ja; aber nicht, wenn ich noch einmal zurückmüßte und alles vergessen müßte, was zwischenzeitlich geschehen ist.
Was würden Sie als die positivsten Aspekte Ihres Lebens bezeichnen?
Schöpferisch zu sein, egal ob es sich dabei um Poesie oder Musik handelt. Das macht das Leben interessant, von liebenden und warmherzigen Menschen umgeben zu sein, wie das jetzt der Fall ist. Es ist tatsächlich so, wie ich es in dem Artikel der New York Times (3. 1. 1979) bezeichnet habe: im Augenblick lebe ich in einem Komponisten-Paradies. Ich habe ein gutes Verhältnis zum Studio, den Leuten dort, den Musikern, die ich kenne, das angenehme Familienleben hier - es ist ausgezeichnet. So etwas habe ich im Ernst nie erwartet. Und nun ist es tatsächlich eingetroffen, aber ich habe es nie erwartet, als ich in den Straßen von New York übernachtet habe.