aus / from: Intro 1994

Moondog. Einer Legende auf der Spur

von Thomas Heinrich

Es muß im Jahre 1977 gewesen sein. Acht Stunden Arbeit lagen hinter mir. In der Küche roch es nach frischem Kaffee und aus einer Ecke plärrte das alte "Schaub Lorenz"-Radio meines Vaters. Meine Mutter und ich unterhielten uns prächtig, und das Radio spielte, weil es das um diese Uhrzeit immer tat.

Doch plötzlich tönte ein Klang aus diesem alten Radio, der mich aufhorchen ließ. Nie zuvor hatte ich so einen Sound (es war eine Celesta) gehört. Ebenso erging es mir mit dem Interpreten: MOONDOG - nie gehört und nie gesehen.

Einige Freunde, die ansonsten alles über angesagte Musik wußten, zuckten auf meine Fragen nur mit den Schultern.

Es dauerte bis zum Jahre 1989, es war wieder bei einer Tasse Kaffee, als ich den Namen MOONDOG zum zweiten Mal hörte. Diesmal war es ein Schallplatten sammelnder Freund, der mir erzählte, daß alte MOONDOG-LPs als CDs wieder erschienen seien. Tatsächlich waren drei CDs in einem Schub erschienen, betitelt: "Tonality All The Way". Wie sich später herausstellte, ist der Titel gleichzeitig Leitmotiv für MOONDOGs gesamtes Werk.

Diese Wiederveröffentlichung schien das Signal gewesen zu sein, auf das viele Leute gewartet hatten. Nach und nach wurden alte Platten aus den Fünfzigern und Sechzigern wieder aufgelegt. Parallel erschienen Artikel in diversen Zeitungen. Sogar das Fernsehen brachte ein längeres Portrait. So kam es, daß der "Unbekannte" aus dem Radio nach über zehn Jahren für mich langsam "Gestalt annahm".

MOONDOG, oder mit bürgerlichem Namen Louis Hardin, wurde am 26.5.1916 in Marysville, Kansas, geboren. Als Sohn eines Missionars kam er schon als kleines Kind in Kontakt mit der indianischen Kultur, vor allem mit der Musik der Indianer. Der Klang der großen Sonnentanztrommel beeindruckte ihn so stark, daß selbst heute noch, viele Jahrzehnte später, ein Großteil seiner Stücke auf den "walking" und "running" beats der indianischen Tänze, basiert, so zu hören auf seiner '92er CD "Elpmas".

Und gerade auf dieser CD wird deutlich, daß MOONDOG sich allen erdenklichen Trends entzieht. Klassisches, akustisches Instrumentarium gepaart mit modernster Sampletechnik macht auch hier klar, daß eine zeitliche Einordnung nicht möglich ist. Gamben, Oboen und Marimba, ja selbst die Obertöne einer angezupften Klaviersaite mußten sich bedingungslos den Gesetzen klassischer Kompositionstechniken unterwerfen. Ton um Ton, Sound um Sound ließ MOONDOG in den Samplern verschwinden, um sie nach den Gesetzen von Kontrapunkt, in der Form des Kanons oder Chaconne wieder das Licht der Welt erblicken zu lassen. Es entstanden Stücke von berückender Schönheit. Starke Rhythmen gepaart mit wunderbaren Melodien lassen die Musik vor dem inneren Auge aus dem Nichts auftauchen und im selben wieder verschwinden. Zurück bleibt ein Hörer, der sich selbst fragt, ob er nun etwas gehört oder gar etwas gesehen hat. Und das ist ein weiteres Merkmal der Musik Louis Hardins: Sie verfügt über eine hohe Visualität.

Wäre er nicht im Alter von 16 Jahren bei einem Unfall erblindet, müßten wir uns vielleicht in den Galerien der Welt mit seinen Gemälden auseinandersetzen. Doch eines wäre auch dann sicher: Auf irgend eine Stilrichtung würde sich der Maler MOONDOG nicht festlegen lassen.

Haben wir es auf seiner letzten CD "Elpmas" mit einer Musik zu tun, die man vielleicht meditativ nennen könnte, kommt uns MOONDOG auf seiner neuen, im Januar 1994 erscheinenden CD "A. Sax" von einer ganz anderen Seite. Er hat sie dem Erfinder des Saxophons, Adolphe Sax, dessen Todestag sich am 4. Februar zum hundertsten Mal jährt, gewidmet. Entsprechend der gängigen Einsatzgebiete des Saxophons im Jazz und In der Bigband-Musik läßt sich die Musik auf "A Sax" durchaus als swingend und groovend bezeichnen. Die Saxophon-Musikstücke gehören zu einer Serie von Werken, die der Komponist selbst als "Zajaz" bezeichnete. Jazz quasi als Januskopf - Musik mit zwei Gesichtern: Sie klingt wie Jazz, zum Teil wie improvisiert, ist aber, im Gegenteil, auch hier wieder in der strengen Form der klassischen Chaconne oder des vielstimmigen Kanons geschrieben.

Das im Herbst '92 mit THE LONDON SAXOPHONIC im englischen Bath eingespielte Material für neun Saxophone, drei Percussionisten, Piano, Contrabass und Gesang besticht durch seine ausgeprägte Polyphonie und den Klangreichtum des Ensembles, in dem die Saxophonfamilie von Sopran- bis Baßsaxophon vertreten ist. Dabei ist es der Handschrift des Komponisten zu verdanken, daß Leichtigkeit und Spielfreude bei aller Präzision nie vom kompositorischen Regelwerk erdrückt werden.

Neben Moondog Klassikern wie "Bird's Lament" oder "Present for the Prez" - Reminiszenzen an CHARLIE PARKER und LESTER YOUNG - wurden Stücke eingespielt, die Musiker aus dem "who-is-who" der Pop-Musik featuren, als da wären: Danny Thompson (Ex-PENTANGLE-Mitglied) sowie Peter Hammill (ehemals VAN DER GRAAF GENERATOR).

Wer im Jahr 1992 Gelegenheit hatte, MOONDOG mit THE LONDON SAXOPHONIC live zu erleben, wird ohnehin schon seit geraumer Zeit einer CD-Veröffentlichung entgegen fiebern. Denn spätestens beim Konzert anläßlich der Dokumenta in Kassel war klar, daß ein Programm, mitreißend und begeisternd dargeboten wie an jenem legendären Abend im Sommer '92, unbedingt für die weltweit Anhängerschaft MOONDOGs eingespielt werden muß. Aber dem auch bis heute unbelecktem Musikfreund sei Hardins neuestes Werk ans Herz gelegt, denn das einzig skandalöse, das sich mit MOONDOG in Verbindung bringen läßt, ist die Tatsache, daß seine schier unerschöpfliche Kreativität sich nicht im Tonträger-Output niederschlägt.