aus / from: Zeit-Magazin, 16. März 1979 p. 48

Wolfram Runkel

Ein Barde von der Ruhr


Das merkwürdige Kauderwelsch hört sich an wie ein Geheim-Code der Roten Kapelle: "Viertel, third space, Viertel fifth line, verbunden, Ganze, first line, halbe first space, Strich". Die Empfängerin der Botschaft übersetzt den Code in Noten. Das Kauderwelsch ist Musik. Und der Diktierer, der da mit schnellen Fingern über musikalische Lochkarten fährt und seine Töne murmelt, ist ein einzigartiger Komponist einer einzigartigen Musik, der blinde Amerikaner Louis Thomas Hardin, genannt Moondog, bekannt zwischen New York und Recklinghausen als Wikinger - mit dem gehörnten Germanenhelm und dem Normannenspeer.

Der 62jährige Pfarrerssohn aus Kansas ist jetzt, nach fünfzigjähriger Odyssee durch die Vereinigten Staaten und durch die unvereinigten normannischen Staaten, die er als "ethnisches Urvaterland" liebt, in einem kleinen Ort bei Recklinghausen im Ruhrgebiet gelandet. Betreut von der 25jährigen Studentin Ilona Goebel.

Der Verlust seines Augenlichts im 16. Lebensjahr durch eine Explosion ("It breaks you or it makes you") führte ihn zur Musik, die er an Konservatorien von verschiedenen Blindenschulen kennenlernte: klassische, ja urklassische Musik, nach den strengen kontrapunktischen Regeln.

1943 ließ er sich als 26jähriger in New York nieder, und zwar auf den Straßen, auf denen er tags stand und nachts lag. Da er mit seinen Kompositionen, komplizierten Madrigalen, Kanons und kleinen Symphonien, oft mit Jazzanspielungen (für Freunde wie Benny Goodman und Charlie Parker), zunächst nichts verdiente, stand er täglich an der Ecke 54. Straße - Sixth Avenue und verkaufte Gedichte. Durch seine schlagfertigen Wortgefechte mit Passanten und seinen Wikinger-Aufzug - nach dem Lesen der Edda war er ganz in der nordischen Götter- und Sagenwelt aufgegangen - wurde er in New York so bekannt, daß das Hilton-Hotel in einer Anzeige in der New York Times als Adresse angab: "gegenüber von Moondog".

Moondog - so nannte er sich nach seinem ersten Blindenhund, der "wie kein anderer den Mond anbellte" - ließ sich von keinerlei Freunden, auch nicht von Artur Rodzinski, Dirigent der New Yorker Philharmonie, mit deren Musikern er jetzt Platten aufnahm, zu einem konventionellen Leben überreden - bis er nach Deutschland kam.

Als ihn einer seiner Bewunderer, der Organist Paul Jordan, 1974 zu einem Moondog-Konzert nach Frankfurt einlud, blieb der Wikinger gleich in seiner neuen, alten Heimat. Der hehre Normanne stand bald in vollem Aufzug in Hamburg auf der Spitaler Straße wie einst in New York und verkaufte Gedichte. Nach Schallplatten-Verhandlungen im Ruhrgebiet blieb er in Recklinghausen, wo er tags an einer Ecke die Kumpels erschreckte und faszinierte, und wo er nachts in einem verlassenen Haus Melodien in Blindenschrift in Karten stach: diese ließ er sich gegen Entgelt von Studenten in Notenschrift übersetzen, bis "Gott mir diese Frau, Ilona, sandte."

Sie war auf seine "Platte für 45 Musiker" (CBS/MS 7335) "abgefahren" und holte ihn ins elterliche Haus, "ins Paradies" (Moondog); managte, übersetzte, verlegte, vertrat ihn, machte ihn zu ihrem Lebensinhalt, "wurde sein Mädchen für beinahe alles". Unter ihrer Ägide entstanden bei der Firma Managarm (Isländisch: "Mondhund") mehrere Platten, außer seiner ruhigen, reinen Werke, den "Lögrundr", eine Platte "H'Art Songs": bei komplizierter, kontrapunktischer Klavierbegleitung singt Moondog einfache aber umso weisere Balladen (RRF 33016)

Mit 62 Jahren hat er sein Leben geändert, der Wikinger segelt auf Erfolgskurs, zwei Platten pro Jahr. Auf Wunsch seiner Betreuerin hat er sogar seinen Helm ("Symbol der Männlichkeit") und seinen Speer ("Verteidigung der Freiheit") hinter sein Recklinghäuser Klappbett gelegt. Trotzig sagt der gebändigte Normanne: "Eines Tages werde ich ihn wieder aufsetzen!"