aus / from: Jazzthetik (Zeitschrift für Jazz und anderes) 11 Nr. 11 (1997) p. 38-41

Berthold Klostermann

Kultfigur in der Provinz


Als Karoline sechs war, wollte sie ihn heiraten. Dann hätte er ihr abends, vorm Zubettgehen, immer etwas auf dem Klavier vorspielen können - am liebsten ein paar seiner H'Art Songs. Die mochte sie besonders gern.

Mamis Einwand, daß er doch schon älter sei als der Opa, dazu blind und mit langem Rauschebart, ließ sie nicht gelten. Seine Songs waren jung - egal, wie alt er selbst war. Da mußten Mami und Papi ihr wiederum recht geben.

Sie betreiben ein Independent-Label. das mehrere CDs des Louis Thomas Hardin, alias Moondog, veröffentlichte. Seit über zwanzig Jahren lebt der von vielen als Kultfigur verehrte amerikanische Komponist in Oer-Erkenschwick, am Nordrand des Ruhrgebiets. Vom Big Apple in die Provinz - eine Karriere in umgekehrter Richtung.

Nicht daß Moondogs H'Art Songs nur was für kindliche Gemüter wären. Mit schlichten Melodien zu karger Piano-/Perkussion-Begleitung, mit Moondogs brüchiger Stimme, skurrilen, wortspielerischen Texten und scheinbar naiven Bildern können sie auch den nüchternsten Erwachsenen bezaubern. In Moondogs Werk spielen sie eine eher marginale Rolle. Es sind Gelegenheitsarbeiten - irgendwann im Leben des heute 81jährigen en passant entstanden. In ihnen arbeitet der blinde Barde nur spielerischer mit den gleichen Mitteln, die er sonst ganz streng und puristisch einsetzt.

Er selbst sieht sich gern als Klassizist; sein Ideal ist der Kontrapunkt. Kernstück der Kompositionslehre seit Mittelalter und Renaissance. Was aber heutige Musiker jedweder Couleur, ja selbst die Stars der zeitgenössischen Komponistenszene - allen voran die von der Minimal-Fraktion - nicht davon abhält, sich auf Moondogs Einfluß zu berufen. Doch da fühlt der sich gründlich mißverstanden: "Frag doch mal Philip Glass; der wird sagen, Moondog, das ist für uns der leader of the pack, und ich sei der Begründer der Minimal Music. Er und Steve Reich prägten den Begriff Minimal und brachten ihn dann mit mir in Verbindung. Sie sangen meine Madrigale, als wir 1969 Plattenaufnahmen machten, noch bevor sie mit ihrem Minimalismus anfingen. Jetzt behaupten sie, ich hätte damit angefangen. Doch schon Bach hat in seinen Fugen minimalistisch gearbeitet. Also, was ist daran neu? Wiederholung ist ein Grundprinzip in der Musik. Meine repetitive Musik ist etwas völlig anderes als die von Glass und Reich. Die scheren sich nicht um den Kontrapunkt, sondern spielen eine Stunde lang dasselbe. Das schafft vielleicht eine gewisse Stimmung, doch die Art von Stimmung interessiert mich nicht. Mir geht es um Struktur, Melodie, Form, Entwicklung. Ich halte mich an die alten, klassischen Werte - daran, mit einem Minimum an Mitteln ein Maximum an Wirkung zu erreichen, und an die logische Entwicklung von Themen statt bloßer Wiederholung."

Moondog erhebt die Gesetze des Kontrapunkts zum Nonplusultra der Musik und geht dabei, ein wenig schelmisch und nicht ohne augenzwinkernde Übertreibung, auch mit seinen klassischen Vorbildern streng und oberlehrerhaft ins Gericht. Mit diebischem Spaß weist er selbst Bach oder Palestrina Fehler und Abweichungen von den Kontrapunktregeln nach. Und doch klingt seine Musik nicht eben klassisch. Klassische Techniken führen bei ihm zu einem unklassischen Ergebnis. Der Meister des Kontrapunkts komponiert so konsequent konservativ, daß es schon fast wieder revolutionär wirkt. Künstlerische Freiheit dank formaler Strenge! Er selbst löst den scheinbaren Widerspruch so auf: "Ich stehe mit einem Fuß in Amerika, mit dem anderen in Europa oder auch mit einem in der Gegenwart, mit dem anderen in der Vergangenheit. Rhythmisch könnte man mich der Moderne, ja der Avantgarde zurechnen; melodisch und harmonisch dagegen der Vergangenheit."

Tatsächlich ist der Rhythmus wohl das Befremdlichste an Moondogs Musik. Ob Songs oder Orchesterstücke, vielstimmige Kanons und Madrigale, Symphonien oder Suiten, Werke für Orgel oder Kammerensemble - immer sind sie mit eigentümlichen Perkussionsrhythmen unterlegt, die Moondog selbst auf einer drei- oder auch sechseckigen Trommel schlägt. Bisweilen entsteht so ein nicht eben swingender, aber doch entfernt jazzähnlicher Beat. Darin klingen traditionelle indianische Rhythmen nach, wie er sie als Kind in den Reservaten von Wyoming kennenlernte, wohin sein wanderpredigender Vater ihn bei Missionsbesuchen gelegentlich mitnahm. Noch heute schwärmt er davon, wie er mal auf Häuptling Yellow Calfs Schoß sitzen und die große Sonnentanztrommel schlagen durfte. Die Indian beats sind der Herzschlag des Moondogschen Werkes.

Geboren wurde Louis Thomas Hardin 1916 in Maryville, Kansas; die Jugend verlebte er im Mittleren Westen. Mit 16 verlor er das Augenlicht bei einer Explosion, als er mit einer Dynamitkapsel herumhantierte. Auf einer Blindenschule in Iowa entdeckte er die klassische Musik für sich und erhielt eine musikalische Grundausbildung. Er lernte Violine, Viola, Piano, Orgel, Chorgesang, Harmonielehre und studierte autodidaktisch weiter, indem er alles las, was ihm in Blindenschrift zum Thema Musik in die Hände fiel. Seine Gehörbildung perfektionierte er so weit, daß er musikalische Ideen direkt aus dem Kopf in Blindenschrift umsetzen konnte. So gut wie alle Kompositionen schrieb er ohne Instrument.

1943 zog Hardin nach New York, wo er als Straßenmusiker lebte und sich Moondog nannte - in Anspielung auf seinen Blindenhund, der überaus inbrünstig den Mond anzuheulen pflegte. Bis in die frühen 70er Jahre war er zumeist an der Ecke 6th Ave./54th St. anzutreffen, trug auf der Straße selbstverfaßte Gedichte und Kompositionen zur Trommel oder Zither vor und verkaufte sie, auf Handzettel gedruckt, an Passanten. Fasziniert von der Lektüre der Edda, legte er sich eine Wikingerkluft zu, die für die nächsten Jahrzehnte sein Markenzeichen wurde. Fotos aus der Zeit zeigen den Verehrer nordischer Mythologie mit wallendem Rauschebart, weitem Umhang, martialischem Speer und doppelt gehörntem Helm - gerade so, wie man sich den Großvater von Dik Brownes Comicfigur Hägar dem Schrecklichen vorstellt. In diesem Outfit wurde er zur Institution im Straßenbild von Manhattan. Zu den schönsten Anekdoten, die um ihn kursieren, gehört die, wonach das New Yorker Hilton in Anzeigen der New York Times seine Adresse mit "opposite Moondog" angab.

Doch so sehr er auch die Straße zu seinem Zuhause machte, ein Penner oder Berber war Moondog nie. Irgendwo gab's immer ein Zimmerchen für die Nacht. Von Passanten als exzentrischer Kauz, als schräger Vogel, ja als Scharlatan beäugt, war er unter Künstlern durchaus hoch angesehen. An seiner Straßenecke lernte er Mitglieder der New Yorker Philharmoniker kennen, die auf dem Weg zur Arbeit waren und ihn eines Tages ihrem damaligen Chef Artur Rodzinski vorstellten. Der lud ihn ein, den Orchesterproben in der Carnegie Hall beizuwohnen, wo Moondog dann lange aus und ein ging und sich jede Menge über Orchestrierung ablauschte. Überdies machte er dort die Bekanntschaft von Arturo Toscanini, Igor Strawinski und Leonard Bernstein. Nach Rodzinskis Weggang im Jahr 1947 freilich war der skurrile Wahlwikinger in der Carnegie Hall nicht mehr ganz so willkommen.

Ebenfalls auf der Straße traf Moondog irgendwann mit Charlie Parker zusammen. Der soll auf ihn zugekommen sein und gemeint haben: "You and I should make a record." Nur durch Parkers Tod blieb der Musikwelt eine Yardbird Meets Moondog-Platte vorenthalten. Dagegen kam es zu anderen künstlerischen Begegnungen. Mit Charles Mingus gab Moondog mal ein Konzert im Whitney Museum, mit Allen Ginsberg anderswo eine Poetry-Lesung. Daß Janis Joplin 1968 sein Madrigal All Is Loneliness aufnahm, verzeiht er ihr bis heute nicht: "Sie hat es total versaut." Wenig später widmete der Souljazz-Organist Jimmy McGriff ihm das zweiteilige Stück Spear for Moondog. In den Liner-Notes zu dessen Album Electric Funk (Blue Note) heißt es erläuternd: "Moondog is a blind man who can be found almost any day in New York City's mid-town area dressed as a Viking and carrying a spear." Zudem hielt Autor Jeff Smerin den Hinweis für angebracht: "He never begs money, he just listens to the world around him." Der Komponist Moondog war ihm offenbar gar nicht bekannt.

Dabei hatte der bereits allerhand Platten veröffentlicht: 1953 Moondog & His Friends, übrigens die erste jemals produzierte LP des Columbia-Sublabels Epic; 1955 zusammen mit Julie Andrews ein erfolgreiches Album mit Kinderliedern (wie schade für Karoline, daß es verschollen ist); außerdem zwei LPs für Prestige (1956/57). Um 1970 kamen zwei Moondog-Alben bei Columbia höchstselbst heraus. Es war die Zeit der Hippies und anderer abenteuerlicher Gestalten, die mit langen Haaren und Bärten von zahllosen LP-Covers grüßten. In Moondog meinte Columbia wohl eine Art Wikingerpendant zu Dr. John The Night Tripper gefunden zu haben, der sich ja zur selben Zeit für Atlantic überaus malerisch als New Orleans Witchdoctor auszustaffieren begann.

Dann plötzlich war Moondog aus Manhattans Straßenschluchten verschwunden. Manche hielten ihn für tot. Paul Simon beklagte in einer TV-Talkshow das Ableben eines seiner großen musikalischen Vorbilder Moondog. Doch der, nachdem er sich eh schon immer als Europäer im Exil gefühlt hatte, weilte inzwischen in Deutschland. Das Wikingerkostüm hatte er abgelegt und gegen Wollmütze und Rollkragenpulli eingetauscht. Auf Vermittlung des befreundeten Organisten Paul Jordan war er 1974 vom Hessischen Rundfunk zu zwei Konzerten nach Frankfurt eingeladen worden - und einfach in Deutschland geblieben, im Lande Bachs, in seiner eigentlichen musikalischen Heimat. In Hamburg, Hannover und wenig später in Recklinghausen - dort waren gerade Ruhrfestspiele - setzte er fürs erste sein Leben auf der Straße fort, trommelte in Fußgängerzonen und verkaufte seine Gedichte.

Bis er eines Tages von einer Studentin angesprochen wurde: Ilona Goebel. Sie lud ihn ins Haus ihrer Eltern im benachbarten Oer-Erkenschwick ein. "Mein zehn Jahre alter Bruder", sagt sie, "wollte ihn über Weihnachten zu uns bitten, weil er ihm leid tat. Aber keiner von uns traute sich so recht, ihn zu fragen. Dann sah ich eine Platte mit Musik von Moondog im Laden und kaufte sie - Orchesterstücke, gespielt von 45 Musikern, mit jeder Menge Solisten. Als ich sie hörte, war ich richtig ergriffen. Ich konnte gar nicht fassen, daß jemand, der solche Musik schreibt, praktisch auf der Straße lebt. Und da lud ich ihn zu uns ein. Nur für ein paar Tage ..."

Heute lebt Moondog immer noch da. Ilona und Familie konnten ihm die Wikingerkluft ausreden (O-Ton llona: "Bist du eigentlich Kostümdesigner oder Komponist?") und ein bürgerliches Leben schmackhaft machen. Sie nahmen ihn unter ihre Fittiche und machten ihr Haus zu dem, was er gern sein composer's paradise nennt. Ilona gab das Studium auf, lernte, seine Kompositionen aus der Blindenschrift zu transkribieren und gründete den Musikverlag Managarm, wo seither alle Moondog-Werke verlegt sind. Das Bochumer Label Kopf Records - Karolines Eltern - brachte in den späten 70ern drei neuproduzierte LPs heraus. Dann wurde es lange Zeit still um den Ex-Wikinger. Der freilich komponierte unermüdlich vor sich hin. Sein Werkeverzeichnis wurde derweil ellenlang. An der Schwelle zu den 90er Jahren erlebte Moondog auf einmal ein veritables Comeback. So plötzlich, wie er einst aus New York verschwunden war, tauchte er 1989 auf Einladung der Brooklyn Academy of Music phönixartig beim 10th New Music America Festival auf. Bei dem Konzert unter dem Motto Meet the Moderns standen außer ihm auch Uraufführungen symphonischer Werke von Butch Morris und John Zorn auf dem Programm. Moondog selbst spielte eine Serie von Widmungen an New Yorker Musikerlegenden wie Lester Young, Benny Goodman, Charlie Parker und Artur Rodzinski, die er ja z.T. einst selbst kennengelernt hatte, und leitete von seiner Trommel aus das Brooklyn Philharmonic Chamber Orchestra.

Dabei fiel sein Dirigierstil als ebenso ungewöhnlich auf wie seine Musik. Moondog saß seitlich des Orchesters und gab, anstatt zu dirigieren, auf der Trommel den Beat vor: "Ich verstehe mich als Erster unter Gleichen. Es gibt quasi lauter Dirigenten im Orchester, und jeder ist ebenso für das Ganze verantwortlich wie für den eigenen Part. Musiker reagieren darauf durchaus positiv. In meiner Musik gibt es keine Taktwechsel. Wenn ich in 4/4 anfange, höre ich auch in 4/4 auf. Man muß also nur den Takt halten, und das tue ich auf der Trommel. Nur wenn unbedingt nötig, gebe ich mal einen Wink mit der Hand. Aber eigentlich will ich gar nicht, daß die Musiker mich überhaupt ansehen, wenn sie einmal angefangen haben zu spielen. Sie sollen sich auf ihren Part konzentrieren."

Das Medienecho hätte kaum überschwenglicher sein können: die New York Times feierte schon "Moondog's Return". Doch der kehrte umgehend nach Oer-Erkenschwick zurück. Immerhin: der Stein war ins Rollen gekommen, die Musikszene hatte ihn fürs erste wieder. Seine alten Platten wurden auf CD wiederveröffentlicht, die Bochumer Kopf-Produktionen zeitweilig als Dreierpack im Schuber (Titel: Tonality All the Way); in der Presse erschienen ausführliche Moondog-Portraits. Rock-Chansonnier Stephan Eicher ließ sich von ihm eine Instrumentalversion des alten Schweizer Guggisbergliedes arrangieren, eine kalifornische Ballett-Compagnie ging mit Choreographien zu Moondogs Musik auf Tour.

Neue Plattenproduktionen und gelegentliche Live-Auftritte ließen nicht lange auf sich warten: 1991 erschien Elpmas (= Sample, rückwärts gelesen), worauf Moondog erstmals nicht nur Instrumentalisten (etwa Götz Alsmann am Banjo), sondern eben auch einen Sampler einsetzte, da der, so der Komponist, sein polyphones Konzept am ehesten fehlerfrei realisieren könne. Anläßlich seines 75. Geburtstags formierte sich im selben Jahr ein Ensemble von Angehörigen der Londoner Guild Hall School of Music, The London Saxophonique, allein zu dem Zweck, Kompositionen von Moondog aufzuführen. Zwischen 1992 und 1994 trat es, immer mit Moondog an der obligatorischen Trommel, auf großen Festivals auf (z. B.: Stuttgarter Jazzgipfel, documenta 9, Moers), gab Einzelkonzerte und spielte die Alben Sax Pax for A Sax sowie Big Band ein, teils mit prominenten Figuren der britischen Musikszene (Peter Hammill, Danny Thompson). Beide CDs sind bzw. enthalten Tribute zum 100. Todesjahr von Adolphe Sax (1894), dem europäischen Instrumentenbauer, dessen Saxophon der amerikanischen Musik des nachfolgenden Jahrhunderts ihre charakteristischste Stimme gab. Und so finden sich auf diesen Alben auch - streng jazz-freie - Widmungen an die Saxophonisten Lester Young (Present for the Prez) und Charlie Parker (Bird's Lament), an die Städte New York (New Amsterdam), London (Shakespeare City) und Paris sowie eine EEC Suite an die Europäische Union. Denn Moondog komponiert nicht bloß als europäischer Amerikaner, er denkt und fühlt auch so.

Erneut ist es still um ihn geworden. Das Comeback der frühen 90er Jahre ist im Sande verlaufen, Moondog mittlerweile 81. Ilona Goebels Versuch, sein komplettes Management zu übernehmen, glänzte nicht gerade durch Professionalismus. Das selbstveröffentlichte Big Band-Album drang kaum bis zum Handel durch. Doch so was kann Moondog nicht verdrießen. Nach allem, was man so hört, komponiert er - emsig wie eh und je. Und gönnt sich mittags ein Nickerchen.


Diskographie

Moondog (Prestige, 1956), OJC
More Moondog / Story of Moondog (Prestige, 1957), OJC
Moondog (= Moondog [1969]/Moondog 2 [1971]), Columbia
Moondog in Europe (70er Jahre), Kopf/Roof, 1989
H'Art Songs (70er Jahre), Kopf/Roof, 1989
A New Sound of an Old Instrument (70er Jahre), Kopf/Roof, 1989
Bracelli, LP, Kakaphone, 1986
Elpmas, Kopf/Roof, 1991
Sax Pax for A Sax, Kopf/Roof, 1994
Big Band, Trimba, 1995


mit Stephan Eicher:

Guggisberglied, auf My Place, Polgram, 1989


von Jimmy McGriff:

Spear for Moondog, Parts 1 & 2, auf Electric Funk (1969), Blue Note, 1997