Neue Zeitschrift für Musik 154 (1993) p. 56-57


Klaus Kirchberg:
Wittener Allerlei
Klangbilder, Klangspiele und Klangräume bei den Tagen für Neuen Kammermusik



Nachdem der WDR-Redakteur Harry Vogt die Planung der "Wittener Tage für neue Kammermusik" übernommen hatte, gewannen die Programme auf ganz unauffällige Art Spannung durch scheinbar zufällig sich ergebende Kontraste. Nun, im 25. Jahr der Zusammenarbeit Wittens mit dem Westdeutschen Rundfunk, wollte es nicht recht klappen mit diesem Konzept. Trotz einleuchtender Ordnung geriet das Programm immer wieder ins unverbindlich Kunterbunte. Wobei für Festivals dieser Art wegen der Dominanz von (diesmal zwanzig) Uraufführungen die Entschuldigung gelten muß, daß nicht immer vorauszusehen ist, was die Lieferanten der Auftragswerke zuguterletzt anzubieten haben.
Zwei Themenkreise waren auszumachen. Der eine erhielt sein Motto von Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene: In drei der sieben Konzerte dominierten Klangbilder, Stücke, die zu optischen Kunstwerken in Bezichung traten (und vice versa: Filme, die auf Musik reagierten). Der zweite Themenbereich, der sich hier und da mit dem ersten überschnitt, zielte auf den Bereich zwischen Komposition und Improvisation. Dabei wurden die Grenzen zum Unverbindlich-Spielerischen vielfach überschritten. Und schließlich gab es bewußt gesetzte Kontrapunkte zu all dem: manisch insistierende Kompositionen Galina Ustwolskajas aus den siebziger Jahren, die in ihrer Gesamtheit noch nicht in Deutschland zu hören waren, und ein Konzert des Mytha Alphorn Orchestra. Zu den Lichttspielscenen: Selbstverständlich ging es in Witten nicht um Filmmusik im herkömmlichen Sinne, bei dem die Musik vor allem der Emotionssteuerung und -steigerung dient. Hier reichte die Palette von Josef Anton Riedls virtuosem Schlagzeugsolo Geschwindigkeit von 1963 (zu einem Film von Edgar Reitz, demgegenüber die Musik weitgehend ihre Selbständigkeit behauptet), bis zu des Schweizers Reinhard Manz' perfekter Filmfassung jener 7 1/2 Bruchstücke von Daniel Ott, die im Vorjahr als Gage-Huldigung und Begleitmusik zu einer Mal-Aktion Sonderborgs in Witten uraufgeführt worden waren. Diesmal erschienen die Skizzen in Gestalt von Studien über die Befindlichkeit eines Ensembles mit Seitenblicken auf Fellinis Orchesterprobe.
Gelungen mit einem leichten Hang zum Kabarettistischen oder doch zum Happening erschienen auch Günter Christmanns phantasievolle Spiele mit instrumentalen Aktionen, die von Filmbildern verdoppelt, kontrapunktiert, überlagert wurden. Das war virtuos und vergnüglich wie sonst kaum etwas in diesen Tagen in Witten. Gewichtiger allerdings erschien Nicolaus A. Hubers und Klaus Armbrusters Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit und gegenwärtiger Bedrohung: In Eröffnung und Zertrümmerung wich die Musik, die zunächst kräftig "den Ton angegeben hatte", mehr und mehr den aussagekräftigen Bildern. Auf schmaler Leinwand waren jeweils drei einander kommentierend nebeneinandergestellt. Das war gewiß nicht ganz neu, trug aber mehr Sinn als die Experimente von Johannes Schöllhorn/ Armin Schneider oder Cornelius Schwehr/ Didi Danquart. Sie mußten sich allerdings gegen die erdrückende Nachbarschaft der von Schöllborn versiert in Fassungen für Kammerensemble übertragenen, einst als Muster für eine neue Filmmusik entstandenen Stücke Franz Schrekers und der Lichtspielscene Schönbergs behaupten.
Zum Thema "Improvisation": Da sorgte Frederic Rzewski am Abend des wie immer perfekten Ensemble Modern für die erste große Enttäuschung. Seine Holes für Klavier und kleines Ensemble, nicht wählerisch in der Zusammenstellung vertrauter Elemente, spiegelten nur vor, was sie doch sein sollten: Noch die Signale, mit denen sich die Musiker zu verständigen schienen, waren genau geprobt. Als virtuoser Sachwalter am Klavier steuerte Rzewski sodann die Composition No. 171 von Anthony Braxton zum Programm bei, ein nicht nur im Begleittext "landschaftliches" wie über Klippen strömendes, mit Folklore-Anklängen angereichertes und in ausführliche Monologe des Pianisten mündendes Stück. Schließlich gab es noch Colour and information des Engländers Benedict Mason, eine Kompo-Improvisation, flach wie ein Teppich, mit viel vertrauten Mustern, viel zu lang für einen Spaß. Die Musiker hatten dabei statt aufeinander auf allerlei Informationen aus Kopfhörern zu lauschen.
Nicht immer waren die Themen des Wittener Festes auf ein Programm konzentriert. Sie tauchten sporadisch in anderen Zusammenstellungen auf. So Malcom Goldsteins gar nicht neuartiges, aber für Freunde einer meditativen Musik reizvolles, Klangraum schaffendes Stück mit dem Titel through deserts of time für Streichquartett, in dem das überragende trio recherche aus Freiburg zusammen mit dem Komponisten aus einem minimalen Notentext eine weite und - zugegeben - öde Klanglandschaft zauberte. Mit dem Raum spielte auch Karlheinz Stockhausens Posaunensolo Signale zur Invasion in dem Michael Svoboda als getreuer Gefolgsmann seines Meisters nicht nur die Verwandlung von Aufruf in Klanggestus vorführte, sondern, peinlich aufdringlich, das Publikum zur "Gemeinde" zu formieren versuchte. Eine Raumkomposition war schließlich auch Klaus Hubers tröpfelndes ... ruhe sanft.. für vier im Raum verteilte Cellisten und einen gelegentlich den Namen "John" (Cage) flüsternden Sprecher: ein sehr privates Gedenkblatt, mehr nicht.
Sodann die Kammermusik "suae generis". Ein äußerst leises Stück von Hermann Spree mit dem Titel Überschreiben, bei dem es Schwierigkeiten mit der Technik (der Einblendung von zwei Cassetten-Recordern) gab, wirkte arg blaß; sein einziger "Lichtblick" war der grell blendende Schein eines das Publikum attackierenden Dia-Projektors. Später erlebten zwei Streichtrios, zu Heinz-Klaus Metzgers 60. Geburtstag geschrieben, ihre verspätete Uraufführung: Walter Zimmermanns Distentio, ein bedeutungsvoll auf Abbilder von Kosmos und Psyche zielendes, zwischen Konzentration auf einen Punkt ("intentio") glissierend vermittelndes Stück, und Matthias Spahlingers quälend kompromisslose presentimentois, die mit großer Phantasie nach neuartigen, auch heute noch quälend dissonanten Klängen suchen: Vorahnung einer unausweichlichen Katastrophe.
Und schließlich die "Kontrapunkte" zu den Hauptsträngen des Programms. Das Schönberg Ensemble Amsterdam, präsentierte - in Deutschland zum erstenmal als Ganzes - die Reihe der aus einem Minimum an Material ein Höchstmaß an Expression und geistlichem Sinn pressenden Kompositionen Nr. 1-3 von Galina Ustwolskaja. Und das Mytha Alphorn Orchestra hegte volltönend den Mythos des untemperierten Naturklanges, der nicht nur dem kompositorischen Ehrgeiz von Franz Koglmann, Hans Kennel und Moondog enge Grenzen setzte, sondern auch durch unüberhörbare Intonationsprobleme die Lust am Zuhören beeinträchtigte. In der Weite eines Alpentals freilich würden sich diese Schwierigkeiten wohl buchstäblich verlieren.